Gefangen in der Todeszone
Heute vor 15 Jahren – RTL.de-Leser erinnern sich an ihre persönliche Loveparade-Hölle

Noch immer ist unbegreiflich, wie so etwas passieren konnte.
Vor 15 Jahren, am 24. Juli 2010, stehen viele partywütige Musik-Fans vermutlich alle mit demselben Gedanken auf: Heute wird ein toller Tag, denn heute wird ordentlich gefeiert! Der Grund: Die Loveparade, die weltberühmte Technoparade der 90er- und 2000er-Jahre, steht endlich wieder bevor! Dass der Tag in einer absoluten Tragödie endet, die uns bis heute bewegt, ahnt morgens jedoch niemand. Heute erinnern sich RTL.de-Leser an den Tag zurück, der alles veränderte.
Loveparade am 24. Juli 2010 – das passierte am Tag des Unglücks

Diese Bilder – hauptsächlich aus Berlin – kennen wir vermutlich alle! Ewig lange Partyzüge mit riesigen Lautsprechern, aus denen elektronische Musik dröhnte, unzählige Feierwütige in coolen Outfits drumherum. Rückblickend betrachtet verkörpert wohl kaum etwas den Party-Zeitgeist der 1990er-Jahre wie die Loveparade, einer Technoparade, die von 1989 bis 2006 jährlich in Berlin und anschließend bis 2010 in verschiedenen Städten im Ruhrgebiet stattfand. Das Massenspektakel lockte jedes Jahr unzählige Menschen an, 1999 zum Beispiel waren es sage und schreibe 1,5 Millionen Besucher.
Dass das Ganze nur elf Jahre später, im Jahr 2010, endet – damit rechnet zunächst niemand. Doch das von den Veranstaltern gewählte, eingezäunte Gelände am Güterbahnhof Duisburg ist nicht für die großen Menschenmassen ausgelegt. Alleine schon deswegen, weil alle Festivalgänger denselben Haupteingang zum Veranstaltungsort nehmen müssen. Genau dieser führt durch einen Tunnel und über eine schmale Rampe hinweg.
Ein verheerender Planungsfehler: Der große Besucheransturm am 24. Juli 2010 kann nicht bewältigt werden und es kommt zu einem Rückstau im Tunnel. Das daraus entstehende Gedränge löst eine Massenpanik aus. 21 Menschen kommen ums Leben, mehrere hundert weitere werden teils schwer verletzt. Eine Katastrophe, die dazu führt, dass Veranstalter Rainer Schaller die Technoparade endgültig einstellt.
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Für die Angehörigen, die Hinterbliebenen, diejenigen, die vor Ort waren und mit einem großen Schrecken davon gekommen sind oder aber auch all diejenigen, die sich an den schwarzen Tag erinnern und bis heute Anteilnahme zeigen, sitzt die Trauer noch immer tief.
Uns hat daher interessiert, wie die RTL.de-Leser den 24. Juli 2010 erlebt und in Erinnerung behalten haben. Via RTL-Zuschauerpost haben sie uns ihre Geschichten erzählt.
„Panikattacken sind heute mein ständiger Begleiter” – Katharina war am 24. Juli 2010 vor Ort
So teilt beispielsweise Katharina* ihre bewegende Geschichte mit uns: „Es sollte ein richtig schöner Partytag mit Freunden werden, doch er wurde zum schlimmsten Tag meines Lebens.” Sie und vier Freunde haben sich am Hauptbahnhof in Essen getroffen, seien früh losgefahren, um die ausgelassene Stimmung im Vorfeld zu erleben und den „lustigen” Sommertag zu genießen. „Doch der Einlass war sehr stockend, die Ordner kamen kaum hinterher, um die Menschen zu kontrollieren. Dennoch kamen wir irgendwann am Gelände an und ich habe mir beim Betreten schon gedacht: ,Wie sollen hier eine Million Menschen untergebracht werden?’.”
Sie und ihre Freunde tanzen eine Zeit lang zur Musik, entscheiden sich aber dann dazu, die Veranstaltung früher zu verlassen, weil ihnen die Füße wehtun. „Wir sind dann Richtung Rampe gegangen, wo die Menschen vom Eingang hochkamen und die, die das Gelände verlassen wollten, heruntergingen. Schnell merkten wir, dass es hier nicht weitergeht. Innerhalb kürzester Zeit wurden wir in sämtliche Richtungen gedrückt und bald wurde uns klar, dass wir hier nicht mehr so einfach wegkommen.”
Katharina suchte verzweifelt nach einer Lösung und kommt auf die Idee, links einen Mast hochzuklettern oder links eine Treppe zu nehmen. Dazu sollte es aber nicht kommen. Währenddessen, so sagt sie, haben sie von den ersten Menschen erfahren, dass es bereits Tote gibt. „Es wurde enger und enger, mir blieb die Luft weg und ich habe einfach nur noch versucht, den Kopf nach oben zu strecken, um irgendwie atmen zu können. Dann merkte ich, wie ich den Halt verlor und zu Boden gedrückt wurde. Die nächsten Menschen fielen auf mich und es war wie beim Domino.”
Ein Unbekannter rettet ihr schließlich das Leben: „Irgendwer muss gesehen habe, wie ich gefallen bin und hat meine Hand geschnappt, was ich nicht mal bemerkt habe. Ich weiß nur, dass ich diesem Menschen, den ich leider nie kennenlernen durfte, mein Leben verdanke. Er hat mich mit all seiner Kraft hochgezogen.”
Doch das Chaos nimmt auch danach kein Ende: Das Handynetz sei tot gewesen, Katharina erreicht weder ihre Freunde noch ihre Mutter, sie wird bewusstlos und ins Krankenhaus gebracht, am nächsten Tag hat sie überall Schmerzen und noch immer Dreck im Gesicht.
„Erst nach Wochen realisierte ich nach und nach, was passiert ist. Jetzt, 15 Jahre später, verfolgt mich der Tag immer noch, es spielt immer wieder der gleiche Film vor meinen Augen ab. Ich habe viel Therapie hinter mir und Panikattacken sind heute mein ständiger Begleiter. Meine Ängste, wenn zu viele Menschen um mich herum sind, sind geblieben und egal wo ich bin, ich suche immer zuerst den nächsten Fluchtweg”, so Katharina. „Auch 15 Jahre danach habe ich noch so viele Fragen, die wohl niemals beantwortet werden.”
Steffi bekommt noch immer Gänsehaut, wenn sie an den Tag der Loveparade zurück denkt
RTL-Zuschauerin Steffi war ebenfalls damals vor Ort: „Wenn ich an diesen Tag zurückdenke, bekomme ich heute noch Gänsehaut”, schreibt sie uns. Sie und ihre Freunde erleben einen halbwegs „normalen” Tag, bekommen das Ausmaß des ganzen Unglücks zunächst nicht mit. „Erst als wir alle dreckig und geschockt nach Hause kamen, erfuhren wir, was passiert war. [...] Uns wurde bewusst, was für ein Glück wir hatten.”
Und sie erzählt: „Die Menschen, die dort ihr Leben ließen, hätten auch wir sein können. Es ist schrecklich, was dort passiert ist. Bis heute kann ich nicht mehr unter so viele Menschen gehen, ein Tag Kirmes oder Freizeitpark ist für mich die Hölle. Es hat Spuren hinterlassen und wird auch niemals richtig verheilen.”
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Glück im Unglück! Ihre (großen) Freunde sind Monas und Margarethes Schutzengel
Mona ist damals 18 Jahre alt und mit mehreren Freunden vor Ort. Sie schreibt uns: „Im dichten Gedränge wunderten wir uns, warum es vor dem Tunnel nicht weitergeht. Es war heiß und ein immer größerer Druck entstand durch die Menschenmasse. Ein Freund von uns hatte durch seine Größe einen besseren Überblick und sah, dass es auf der linken Seite einen Seitenweg gab, den keiner nutzte.”
Gesagt, getan, die Gruppe schlägt sich durch – und schafft es. „Hätten wir den Seitenweg jedoch nicht gefunden oder genutzt, wären wir genau in den Kessel im Tunnel geraten. Als wir nach einer Weile zurückwollten, wurden wir nicht mehr durchgelassen. Wir fragten einen Ordner, warum der Weg jetzt gesperrt sei und er sagte: ,Da werden Menschen geborgen’. Erst durch den telefonischen Austausch mit unseren Eltern haben wir über das schreckliche Unglück erfahren. Ich bin unserem Freund immer noch dankbar.”
Auch RTL.de-Leserin Margarethe erlebt das Drama hautnah mit. Sie erinnert sich noch daran, dass selbst Sanitäter verzweifelt versucht hätten, sich einen Weg durch das Chaos zu ebnen. „Ich weiß nicht mehr, wie wir es aus dem Tunnel geschafft haben, aber mein Kumpel hat mich irgendwie mitgezogen, mich gestützt und darauf geachtet, mich nicht loszulassen. Hätte er das getan, wäre ich mit meinen 164 Zentimetern untergegangen. Auch wenn ich nicht mehr konnte, hörte ich nur ,Nicht hinsetzen, nicht hinsetzen!’.”
Auf einer Wiese haben sie Zeit, durchzuatmen. „Die Situation im Tunnel war sehr angsteinflößend. Wir saßen dann einfach nur da. Später in den Nachrichten erfuhren wir von dem Ausmaß der Tragödie. Zu begreifen, dass es uns das Leben gerettet hat, nur weil wir einen anderen Weg genommen haben, kann ich bis heute nicht begreifen.”
Margarethe sagt uns, dass auch sie Menschenmassen, Konzerte oder volle Fahrstühle seitdem meidet. „Wenn eine Veranstaltung wirklich nicht sein muss, setze ich lieber aus.”
Und: „Mittlerweile lebe ich in Duisburg, und obwohl ich oft mit dem Auto durch den Tunnel fahre, konnte ich noch nicht an den Ort, an dem alles geschehen ist, obwohl ich mir gerne die Gedenkstätte ansehen würde. Vielleicht werde ich es jetzt tun.”
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„Mein Mann hat miterleben müssen, wie drei Opfer versucht wurden, wiederbelebt zu werden”
Rebecca, heute 42 Jahre alt und dreifache Mutter, und ihr Mann nehmen ebenfalls am 24. Juli 2010 an der Loveparade teil. „Wir waren immer begeisterte Loveparade-Gänger”, erzählt sie uns. Sie sind live dabei, „auf der Westseite, wo 14 der 21 Menschen ihr Leben verloren. Mein Mann hat leider miterleben müssen, wie drei der Opfer versucht wurden, wiederbelebt zu werden – und dann letztendlich das Tuch drüber kam ...”
Auch sie sagt, dass sie unter acht Menschen begraben gelegen habe. „Die Ärzte gaben mir nur noch zwei Minuten, dann hätte ich ebenfalls nicht überlebt. Emotional komme ich bis heute nicht damit klar.” Therapiestunden hätten ihr nicht viel gebracht, sodass sie das Erlebte „eigentlich nur verdränge”.
Doch sie und ihr Mann haben sich nach dem Unglück etwas ganz Besonderes einfallen lassen: „Wir sind schon seit fast 21 Jahren zusammen, davon fünf verheiratet. Wir wollten den für uns schlimmsten Tag im Leben, den 24. Juli, in etwas Positives umwandeln. Und so kam es, dass wir exakt zehn Jahre nach der Katastrophe, den 24. Juli 2020, zu unserem Hochzeitstag gemacht haben. Natürlich holt es uns immer wieder ein. Aber jetzt ist es nicht mehr ganz so negativ beschattet.”
Torsten ist damals als Rettungssanitäter im Einsatz und berichtet Ungeheuerliches

Torsten aus Duisburg ist damals vor Ort – nur quasi auf der anderen Seite. Als Mitglied der Berufsfeuerwehr und dem Rettungsdienst feiert er am 24. Juli 2010 nicht, sondern ist im Einsatz. Uns schildert er, was er damals erlebt hat: „Wir kamen im Tunnel kaum durch. Schnell merkten wir, dass es sich um eine Notfallsituation handelt, wo es um Leben und Tod geht.” Er und sein Team entscheiden sich deswegen schnell dazu, lebensrettende, medizinische Maßnahmen zu ergreifen, die normalerweise geschultes Personal durchführt. Denn sie wollen helfen. Und müssen handeln.
„Es bot sich ein Bild des Grauens, das man sein Leben lang nicht mehr vergessen wird. Die Schreie, die Gesichter und vor allem die Toten”, sagt er. Zweimal reanimiert er Menschen, zweimal ohne Erfolg. „Wir hatten auch Angst um unser Leben. Die Eindrücke, die Panik und die Ängste, wie Menschen irgendwo herunterfallen – all das bleibt im Kopf. Ich dachte, ich könnte das Ganze alleine verarbeiten. Aber eine geschulte Nachsorge war leider nicht erfolgreich.”
Der Familienvater kritisiert zudem: „Es hat damals niemand mehr nachgefragt, wie es uns geht, es hat niemand gefragt, ob wir Hilfe brauchen. Wir wurden vergessen, nach dem Motto: ,Die machen das schon, das ist deren Job.’ Aber so viele Jahre nach dem Ereignis sind die Bilder noch so, als wäre es erst gestern gewesen. Man fragt sich, ob es hätte verhindert werden können.”
Marco arbeitet damals als Security – und handelt entgegen seiner Anweisungen: „Es war uns einfach egal”
Ähnlich geht es auch RTL-Zuschauer Marco. Er ist ebenfalls beruflich auf der Loveparade: „Ich war damals im Sicherheitsdienst eines großen Unternehmens aus Essen bei der Loveparade eingeteilt, genau genommen im Bereich der Sanitäter auf dem Gelände, wo die Parade war. Irgendwann machte es die Runde, dass unten an der Rampe Panik ausgebrochen wäre, keiner wusste genau, was los war.”
Als er sich selbst ein Bild von der Unglücksstätte macht, ist er schockiert: „Es war die Hölle los. Menschen lagen auf dem Boden, waren am Weinen oder riefen nach Hilfe. Sie kletterten Treppen oder Laternen hoch, um irgendwie da rauszukommen. Wir haben versucht, per Funk jemanden zu erreichen, aber der Funkverkehr ist ausgefallen, niemand antwortete uns.”
Kurz darauf stürmen etliche Festivalgänger auf Marco und seine Kollegen zu, bitten sie, die Notausgänge zu öffnen. „Wir wussten nicht, was wir machen sollten. Wir hatten die Anweisung, die Tore geschlossen zu halten, doch die Leute kletterten bereits über Zäune, wollten raus. Es wurde voller und voller.”
Sie entscheiden sich dazu, die Ausgänge zu öffnen – ohne Erlaubnis. Marco sagt: „Es war uns einfach egal. Wir wollten nicht daran schuld sein, wenn Leute zerquetscht werden. Also öffneten wir die Tore und die Menschen konnten ins Freie fliehen. Wir haben versucht zu helfen und Menschen aus der Masse gezogen. Menschen rannten umher und riefen nach ihren Freunden, es war schlimm.”
Emotional! RTL-Zuschauerpost quillt über vor Anteilnahme
Beim Durchgehen der unzähligen Einsendungen bemerken wir vor allem eines: Mitgefühl, Empathie, Anteilnahme. Die Tragödie, die sich damals in Duisburg ereignet hat, scheint noch immer fest in den Köpfen vieler verankert zu sein, egal ob sie vor Ort waren oder nicht.
Elisa, deren Geburtstag auf den 24. Juli fällt, schreibt beispielsweise, dass auch sie mit ihren Freunden zur Loveparade gehen wollte, aber kurz vorher Rücken- und Unterleibsschmerzen bekam und somit nicht an der Veranstaltung teilgenommen hat. Dennoch: „Ich denke jedes Jahr an meinem Geburtstag an die vielen Opfer und zünde eine Kerze an. Allen Familien der Opfer wünsche ich alles erdenklich Gute, ich denke an jeden, der vor 15 Jahren vor Ort war und bis heute noch an den Folgen leidet.”
Und auch Kevin hinterlässt berührende Worte: „Ich werde diesen Tag nicht vergessen, auch psychisch hat er etwas mit mir gemacht. Leider hat auch der Staat versagt. Allen Menschen, die von der Katastrophe betroffen sind, wünsche ich alles Gute. Und natürlich an alle, die ihr Leben verloren haben: Ruht in Frieden.”
*Namen von der Redaktion geändert